| LSBTIQ Homosexuelle Flüchtlinge: Endlich nicht mehr schweigen

04.08.16 / Artikel von Sarah Levy bei Zeit Online:

"Beim Christopher Street Day in Hamburg feiert zum ersten Mal eine Gruppe schwuler Flüchtlinge mit. Einer von ihnen erzählt, was das für ihn bedeutet.

Die ganze Woche über feiern Lesben, Schwule, Transgender und Bisexuelle in Hamburg den Christopher Street Day (CSD). Am Samstag führt eine Parade durch die Innenstadt. Erstmals dabei: Zain, 25, aus Aleppo in Syrien. Er ist homosexuell, seine Familie darf das aber nicht wissen. Er heißt eigentlich anders, dieser Name soll ihn schützen.

Wenn ich in den nächsten Tagen beim Christopher Street Day mitlaufe, ist das das erste Mal, dass ich mich offen als schwuler Mann zeige.

In der arabischen Umgangssprache gibt es kein positiv besetztes Wort für "Homosexueller". Schwul zu sein, bedeutet für die meisten Syrer, dass etwas nicht mit dir stimmt. Die Leute denken, dass du es dir ausgesucht hast, schwul, bisexuell oder lesbisch zu sein. Sie glauben, dass sich das ändern lässt. Schwule werden nicht in der Familie akzeptiert, sie sind eine Schande. Manche Eltern zwingen ihre Kinder, zu Ärzten zu gehen, die sie heilen sollen. Die Eltern eines Freundes sagten zu ihm: Du bist jetzt heterosexuell oder du bist auf dich allein gestellt.

Ich denke, das hat nicht so viel mit der Religion zu tun. Mein Freund war Christ, auch er konnte es seiner Familie nicht erzählen. Es ist eine Sache der Überzeugung, der Kultur, der Tradition. Im nahöstlichen Denken muss der Mann stark sein, nicht weich, seine Kleidung darf nicht auffällig oder ungewöhnlich sein. Männer, die nicht in dieses Raster fallen, die sich anders kleiden, Schmuck tragen oder den falschen Haar- oder Bartschnitt, können jederzeit verhaftet werden, weil sie gegen "allgemeine Verhaltensregeln" verstoßen. Ein Freund wurde von einem Polizisten erpresst, der drohte, seine Identität an seine Familie zu verraten. Er forderte Geld, sogar Sex. Die Uniform erlaubt dir vieles.

Einmal, als wir einen Jungen auf der Straße sahen, der auffälliger angezogen war, in buntem Hemd vielleicht, ich weiß es nicht mehr genau, da sagte mein Vater: "Dieser Junge hat keine Manieren. Wo sind seine Eltern? Er wird schwul sein, was eine Schande für seine Familie." In diesem Moment verstand ich, dass ich den Rest meines Lebens über mein wahres Ich schweigen würde.

Meine Eltern sind gebildete Leute. Aber sie würden es nicht verstehen. Sie würden sich weigern, es zu verstehen. Ich wollte meine Familie nicht verlieren. Die homosexuelle Community in Syrien ist eine versteckte, heimliche Gemeinschaft. Das Internet ist die einzige Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Ich habe mir einen Fake-Account auf Facebook erstellt, mit falschem Namen, mit einem Foto, das ich im Internet gefunden habe. Um zu zeigen, dass dieser Account einem Schwulen gehört, lud ich Bilder hoch, die Männer als Paar zeigten, oder einen Regenbogen. Wir fügten uns gegenseitig zu privaten Gruppen hinzu. Alles lief heimlich ab. So sprachen wir miteinander, halfen einander, manchmal verliebten wir uns.

Während meines Studiums des Ingenieurwesens hatte ich eine eigene Wohnung. Oft habe ich andere Schwule bei mir aufgenommen, die von ihren Familien verstoßen wurden. Manchmal habe ich ihnen geholfen, einen Job zu finden, bei Arbeitgebern, die ich aus der schwulen Community kannte. Später, als der Krieg ausbrach, habe ich als Freiwilliger in Flüchtlingscamps des Roten Kreuzes und von Unicef mitgeholfen. Da bin ich das erste Mal schwulen Geflüchteten begegnet, die unter den Schikanen anderer Geflüchteter litten. Ich hatte damals keine Ahnung, dass es mir irgendwann genauso gehen würde.

Meine Familie ist viermal umgezogen, unser Haus wurde zerstört und geplündert. Manchmal gab es kein Wasser, keinen Strom. Kein Ort war mehr sicher. Ich wollte mit meinem Bruder Richtung Türkei fliehen. Doch dafür mussten wir durch die Zone, die vom "Islamischen Staat" regiert wird. Ich musste alle Lieder auf meinem Handy löschen. Meine Facebookaccounts. Alles, was mich als Mensch ausmachte, meine gesamte Identität. Sie hielten mich an, fragten, ob ich zur Regierung gehörte, wohin ich wollte, ließen mich dann aber ziehen. Einer meiner Bekannten hatte nicht so viel Glück. Sie haben herausgefunden, dass er schwul ist, sie haben ihn vom Dach eines Gebäudes gestoßen. Sie haben es gefilmt. Ich habe das Video im Internet gesehen.

Ich schaffte es von Syrien in die Türkei. Das Boot, das wir nach Griechenland nahmen, sank. Wir trieben und schwammen vier, fünf Stunden auf dem offenen Meer, bevor uns ein Polizeiboot fand. Von Griechenland reisten mein Bruder und ich nach Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, bis nach Deutschland. Ich schickte ihn weiter in ein skandinavisches Land, wo wir Verwandte haben. Ich wollte nachkommen. Dann begann ich nachzudenken. Mein Bruder war sicher, er brauchte mich nicht mehr. Doch was würde es für mich bedeuten, wieder mit meiner Familie zu leben? Ich würde niemals frei sein können, wenn ich ihm folgte. Ich beschloss, allein in Deutschland zu bleiben. Ich wollte mich selbst finden. Es war das erste Mal, dass ich etwas für mich entschied. Das erste Mal, dass ich auf mich allein gestellt war. Ich sagte meinem Bruder, dass ich hier studieren, einen besseren Job als Ingenieur finden könnte. Er akzeptierte das. Er weiß bis heute nicht, dass ich schwul bin.

Einige Monate lebte ich in Flüchtlingsheimen in norddeutschen Städten. Ich wohnte in Zelten, mit 500 anderen Syrern. Ich freundete mich mit einem anderen schwulen Flüchtling an. Er hatte viele Probleme im Camp. Die anderen Bewohner machten Witze über ihn, beschimpften ihn mit bösen Worten – die deutsche Übersetzung wäre "Ficker", glaube ich. Sie versuchten, ihn zu schlagen. Ich habe ihn verteidigt, ihn beschützt. Ich musste meine Identität erneut verstecken. Ich konnte niemandem vertrauen. Wir wollten in ein anderes Camp. Doch der Sicherheitsdienst konnte nichts tun.

Ich schrieb an viele Organisationen, die sich für Schwule einsetzen. Geholfen nach Hamburg zu kommen hat mir die Gruppe Queer Refugees Support. Leider gibt es in der Stadt keine Unterkunft speziell für schwule Geflüchtete. Die Mitglieder organisierten mir aber ein Zimmer und halfen mir, eine eigene Wohnung zu finden. Sie wollten so viel wissen, es interessierte sie, wie ich gelebt hatte, in Syrien, im Camp. Sie luden mich ein, wir tranken Bier. Zum ersten Mal habe ich ein Umfeld, das mich als Homosexuellen akzeptiert. Diese Menschen sind nicht nur eine Organisation, die mir mit meinen Papieren geholfen hat. Sie sind meine Freunde, meine Familie geworden.

Mir geht es hier so gut, ich will etwas zurückgeben. Ich übersetze, helfe anderen Geflüchteten, sich zurecht zu finden. Vor allem jene, die sich nicht selbst schützen können, weil sie zu jung, zu traumatisiert, oder zu gutgläubig sind. Sie brauchen unsere Hilfe und unseren Schutz. Ich habe organisiert, dass fünf homosexuelle Syrer zum CSD nach Hamburg kommen können. Sie leben in Unterkünften in ganz Deutschland, in ihrem Camp können sie sich nicht outen. Am CSD werden wir zwei Tage lang gemeinsam feiern, unsere Identität offen zeigen. Gemeinsam mit anderen Homosexuellen.

Ich habe in Hamburg zum ersten Mal erfahren, was es heißt, frei zu sein. Ich habe ich mich selbst gefunden. Jetzt kann ich mein Leben beginnen."

 

Dieser Artikel ist eine längere Version des Artikels "Das wird gefeiert!" aus der ZEIT Hamburg Nr. 33 vom 4.8.2016

Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard hat inzwischen angekündigt, dass die Stadt derzeit Apartments anmietet, die ausschließlich von schwulen, lesbischen sowie bi-, trans- und intersexuellen Flüchtlingen bewohnt werden sollen."

Den Link zu dem Artikel der Zeit finden Sie hier.

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Ehrenamtspreis des Flüchtlingsrates NRW

Mit dem Ehrenamtspreis möchte der Flüchtlingsrat NRW das ehrenamtliche Engagement von in der Flüchtlingshilfe aktiven Initiativen und Einzelpersonen in NRW ehren und diese in ihrer Arbeit stärken.

Weitere Informationen zum Ehrenamtspreis finden Sie hier.

Nein zur Bezahlkarte: Ratsbeschlüsse aus nordrhein-westfälischen Kommunen

In dieser regelmäßig aktualisierten Übersicht dokumentiert der Flüchtlingsrat NRW, welche Kommunen sich bisher gegen die Einführung einer Bezahlkarte für Schutzsuchende entschieden haben.

Die Übersicht finden Sie hier.

Keine Propaganda auf Kosten von Flüchtlingen! Argumentationshilfen gegen Vorurteile

Der Flüchtlingsrat NRW e.V. stellt einen Flyer sowie eine ausführliche Argumentationshilfe zur Entkräftung von Vorurteilen (Stand: November 2023) bereit.

Den Flyer und die Argumentationshilfe finden Sie hier.

Broschüre zum Engagement für Flüchtlinge in Landesunterkünften

Der Flüchtlingsrat NRW hat die Broschüre „Ehrenamtlich engagiert – für Schutzsuchende in und um Aufnahmeeinrichtungen des Landes NRW“ aktualisiert (Stand Dezember 2021).

Die Broschüre können Sie hier herunterladen.

Kooperations- und Fördermöglichkeiten für flüchtlingspolitische Veranstaltungen und Projekte

Broschüre des FR NRW, Stand November 2023, zu verschiedenen Institutionen, die fortlaufend für eine finanzielle Unterstützung von Projekten und Veranstaltungen zu flüchtlingspolitischen Themen angefragt werden können.

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